Wilfried DickhoffWilfried Dickhoff

Tony Oursler

Shock-Rock

Gräfliches Kurbad Driburg, Konzertmuschel im Kurpark, July-September 2002
Curator: W.D.

Shock-Rock - Ein Intermezzo von Tony Oursler
Rede zur Eröffnung am 7. Juni 2002

Nicht nur vor Kunstwerken, aber besonders da gilt: Es gibt kein Verständnis. Es gibt nur verschiedene Stufen von Humor. Das ist aber garnicht so lustig. Denn es gehört sehr viel Ernsthaftigkeit dazu, sich auf einer Humorstufe zu bewegen, die die Tatsache pariert, dass es kein Verständnis gibt. Aber mit welcher Art von Verständnis oder Verständnislosigkeit haben wir es hier und heute zu tun? Auf welcher Humorstufe bewegt sich das Kunstwerk, dessen Eröffnung wir heute feiern? Und wozu lädt dieses Kunstwerk uns ein?

Dazu ein paar Hinweise und/oder Anregungen:

Tony Oursler, geboren 1957 in New York, wo er nach wie vor auch lebt, beschäftigt sich schon seit Mitte der siebziger Jahre mit Inszenierungen, in denen Video, Theater (auch in Form von Puppenspielen) und Literatur (vor allem in Form von poetischen Texten) ineinandergreifen.

1977 gründete er mit dem Künstler Mike Kelley die Punkband Poetics, die bis 1983 existierte und deren Geschichte er auf der Documenta X in Kassel dokumentierte. Schon damals stand der Zusammenhang zwischen Bühneninszenierung, Starkult, masenmedialer Projektion und multimedialer Kommunikation im Mittelpunkt seiner Bildforschungen.

Seit mehr als zehn Jahren verwendet Tony Oursler in seiner künstlerischen Arbeit puppenartige Objekte, die er Dummies oder Dolls nennt und auf die er bewegte Videobilder, hauptsächlich von Gesichtern, projiziert.

So entstehen Arbeiten wie Get Away (1994), in der eine schlecht gelaunte weibliche Puppe, die unter einer Matratze eingequetscht zu werden scheint, den Betrachter anblafft: What are you looking at? (Was glotzt du so?).

Ourslers Dummies scheinen manchmal in Zuständen der Klaustrophobie oder Hysterie, manchmal aber auch in Zuständen selbstverliebter Assoziationen gefangen. Sie geben entsprechende, manchmal atemlos und gehetzt klingende, manchmal humorvolle oder schön-böse Sätze von sich.

Seine Videos nimmt er mit Schauspielern auf, denen er wie ein Regisseur Rollentexte vorgibt. Auf diese Weise verwandelt er Museen, Galerien und öffentliche Räume in Theaterbühnen. Die akustisch-optischen Inszenierungen des Künstlers behandeln die grundsätzlichen Themen, die unser gegenwärtiges Leben bestimmen. Im Mittelpunkt steht dabei unsere Hoffnung auf Verständigung und deren Scheitern, sowie die Rolle, die die Medien bei unseren Bemühungen um Kommunikation, Liebe, Sex und Sinn spielen. Dabei berührt Oursler oft auch die Frage der Religion, besonders auch in ihrer ursprünglichen Bedeutung von Vermittlung und Begegnung mit dem Unerklärlichen und Metaphysischen.

Oursler nennt seine Arbeiten auch effigies (lat. Bild, Abbild). Als effigies galten seit dem Mittelalter Puppen, die zum Beispiel als Scheinleiber, anstelle eines Verstorbenen, bei Bestattungsprozessionen mitgeführt wurden. Sie wurden aber auch, den südamerikanischen ExVotos vergleichbar, als Stellvertreter für reale Personen eingesetzt, denen man zum Beispiel Verletzungen zufügte, die die wirkliche Person treffen sollten.

Auf diese Weise gewinnt der Begriff der Projektion eine zusätzliche Bedeutung, etwa die einer magischen Praxis, wie sie auch bei Voodoo-Puppen angewandt wird. Ourslers Dummies sind körperlich nicht vorhanden, sondern können nur als mediale Projektionen auf leblose Objekte erfahren werden. Sie spielen so mit Abwesenheiten aller Art und ähneln oft Phantomen, Poltergeistern oder Gespenstern, von denen unklar bleibt, ob sie gut oder böse sein könnten.

Das Böse ist nicht das Gegenteil des Guten, sondern die Ununterscheidbarkeit zwischen Gut und Böse. Diese Indifferenz, diese Austauschbarkeit und Gleichgültigkeit aller Formen und Inhalte, die unsere globalisierte Event-Kultur kennzeichnet, ist ein immer wiederkehrendes Thema in Ourslers Arbeiten. Diese Lage mit künstlerischen Mitteln zu parieren, ist eines seiner Anliegen. Das trifft auch für die Rauminszenierung zu, die Tony Oursler für Bad Driburg geschaffen hat:

Anstelle eines Kurkonzerts zeigt Tony Oursler in der Konzertmuschel des Parks ein optisch-akustisches Intermezzo. Es heißt Shock-Rock. Was heißt das? Zu sehen sind eiförmige weiße Skulpturen, die durch Beamerprojektionen zu künstlichem Leben erweckt werden. Zwei proijezierte Köpfe einer Frau erscheinen, die in selbstbezogener Befangenheit vor sich her reden. Was sie zu sagen haben erinnert an assoziative Selbstgespräche wie sie jeder schon einmal, zum Beipiel kurz vor dem Einschlafen, erlebt hat. Ängste, Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte, Bruchstücke aus eingebildeten Gesprächen, Splitter aus vorbeirauschenden Fernsehinformationen, existentielle Fragen und andere halb mentale und halb emotionale Zustände bilden eine ungewohnte, entrückte Atmosphäre. Die Frau scheint in jenem inneren Bezirk zu sein, in dem man mit sich allein ist, in dem keiner mir helfen oder mich berichtigen kann (wie Montaigne sagte).

Unklar bleibt, ob hier eine selbstbewußte Person spricht oder eine computergenerierte Struktureinheit, die nur noch kodierte Zahlenreihen wiederkäut. Ourslers Text wird von der Schauspielerin Barbara Sukowa (die uns in Deutschland zum Beispiel als Fassbinders Lola in Erinnerung ist) sehr eindringlich vorgetragen. Der Text behandelt unter anderem die Frage nach dem Selbst, hält sie aber in der Schwebe.

Be your self?, fragt das Dummy an einer Stelle und antwortet sich selbst sofort mit der Gegenfrage: What self? Es bleibt offen, ob das Selbst mehr ist als ein falsches Trauma (T.O.), das ein zunehmend posthumane Tendenzen aufweisendes menschliches Leben begleitet. In welchem Maße sind unsere Gedanken beeinflußt von den elektronischen Strahlungen neuerer Informationssysteme? Wer oder was spricht mit, wenn wir zu sprechen glauben? Was ist Sexualität innerhalb einer Eventkultur, der die Erlebnisindustrie perfekt normierte und kommerziell repräsentierte Körper zur Verfügung stellt? Wie äußert sich die Liebe in Zeiten des Internet, von dem die Maxime Liebe deinen Fernsten wie dich selbst auszugehen scheint? Gibt die negative Energie aus systematischer Rebellion (T.O.), wie sie Jugendkulturen aktivieren können, Anlaß zur Hoffnung auf andere Freiheiten oder Glückszustände? Das sind einige der Fragen, die Ourslers Inszenierung anspricht.

Shock-Rock konfrontiert mit einer Atmosphäre aus Ungleichzeitigkeiten, in der moderne und altmodische Übertragungstechniken, elektronische Strahlungen und allzumenschliche Wünsche nach Harmonie, Heilung und religiöser Bindung oszillieren. Getragen wird diese widersprüchliche Atmosphäre von einem Aufbegehren, von einem eigensinnigen Insistieren. Nicht nur die Frau, die in Ourslers Video spricht, auch der optisch-akustische Gesamtklang dieser Arbeit ist einem eigensinnigen Mädchen vergleichbar, einem fliehenden Mädchen, das sich an Haltlosigkeiten schmiegt, aber immer dem Wunsch zu wünschen folgt und seinem Begehren treu bleibt. Darin ist Shock-Rock solidarisch mit dem Überraschenden, dem unverhofft Ansprechenden und darin schockierend Wirkenden elektronischer Rockmusik.

Shock-Rock ist eine Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Gedanken und Gefühlen. Aber diese Widersprüche werden hier nicht überspielt oder harmonisiert. Oursler läßt sie unversöhnt stehen. Die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari haben einmal gesagt: Die einzige Möglichkeit, aus den Dualismen herauszukommen ist dazwischen sein, dazwischen hindurchgehen, Intermezzo. Shock-Rock ist ein Intermezzo in diesem Sinne, es geht zwischen den Widersprüchen und Dualismen hindurch, die unser Leben beherrschen. Nicht mehr und nicht weniger.

Shock-Rock ist ein kleiner überraschender Zwischenfall, ein Zwischenraumgespenst, das sich einem Wechselspiel von Sichtbarem und Unsichtbarem bedient und auf verschiedenen Ebenen zugleich operiert: auf der Ebene der populären Unterhaltung, der Information, der ästhetischen Erfahrung und auf den Ebenen des Begehrens und der grundsätzlichen Fragen. An einem Ort, der seit mehr als zweihundert Jahren für Traditionen der Heilung in vielfältigen Formen steht, können wir ein Intermezzo im öffentlichen Raum erleben, einen anderen Raum der Kunst, die dazu einlädt, sich mit ihr auf diesen vielfältigen Ebenen zu bewegen.

Whatever happened to my Rock'n'Roll lautet ein Songtitel aus dem Jahre 2002, gespielt von einer jungen amerikanischen Musikgruppe mit Namen Black Rebel Motorcycle Club.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Vergnügen mit Shock-Rock und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.